Unser Mädchen II
Ziemlich genau 1 Jahr ist es jetzt her, dass ich – am Ende eines sowieso schon ziemlich blöden Jahres 2013 – mit dem Mädchen ins Krankenhaus musste, weil es sich in einem insgesamt kritischen Zustand befand. Ich habe damals hier und dort über all das geschrieben. Wenn ich an all die Anteilnahme zurückdenke, die uns damals entgegenschlug, all die Hilfsangebote, die zahlreichen Care- Pakete und die vielen offenen Ohren und weichen Schultern, wird mir immer noch ganz warm ums Herz. Im Fühsommer gab es schonmal einen Zwischenbericht und jetzt, wo sich das Ereignis jährt, will ich mal schreiben, was seither so passiert ist, denn offenbar fiebern sehr viele meiner Leser_innen immer noch sehr mit jedem Entwicklungsschritt unseres Mädchens mit :)
Zu allererst: Es geht uns gerade sehr gut. Wir haben seit ein paar Monaten eine echt gute Zeit, und das genieße ich gerade sehr.Ich war lange in Sorge, weil mir niemand sagen konnte, was denn jetzt mit unserer Tochter los ist, und was auf uns zukommen wird, oder worauf wir hoffen dürfen.
Obwohl wir die Magensonde nun schon seit einem halben Jahr los sind, geht mir die Erinnerung an diese Zeit immer noch nach. Das zugeklebte Gesicht, der Pflegedienst, der zum Alltag gehörte, das mitunter qualvolle Legen der Sonde alle 10 Tage. Die Reaktionen der Leute. Ein Kind mit Magensonde und Pflastern im Gesicht, das auch in der Öffentlichkeit mit Hilfe einer Spritze gefüttert werden muss, wird überall angeglotzt. Man bekommt von vollkommen fremden Menschen sehr persönliche Fragen gestellt und mitleidige bis ableistische Kommentare zu hören. Ein fordernd gebelltes „WAS HAT DAS KIND?!“ war praktisch an der Tagesordnung, und meine Standard- Antwort schwankte je nach Tageslaune und Alter der fragenden Person zwischen „wunderschöne blaue Augen, sehr coole rote Haare, zwei Augen, eine Nase…“ und „das geht sie nichts an“. Kommentare wie „Ach Gott, das arme Kind. Sowas muss doch heute nicht mehr sein!“, und Menschen, die dem Mädchen ein Bonbon reichten, damit „es auch mal was zum Freuen hat“ machten mir schon mehr zu schaffen. Und wir hatten nur eine Magensonde. Ich kann nur in Ansätzen ahnen, was Eltern sich anhören müssen, deren Kinder eine viel schwerere Behinderung haben. Das war alles nicht einfach, aber mit dem Wegfall der Magensonde erübrigte sich diese Thematik weitgehendst. Ich schreibe „weitgehendst“, weil man dem Mädchen auch ohne die Magensonde anmerkt, dass es irgendwie anders ist als andere Kinder. Wenn ich ihr Alter nenne, schaue ich danach oft in irritiert grübelnde Gesichter. Denn unsere Tochter ist eben nicht, wie normal entwickelte 20 Monate alte Kinder.
Zu Anfang des Sommers haben wir einen Schwerbehindertenausweis bekommen. Der attestiert dem Mädchen einen grad der Behinderung von 80% und außerdem die Merkzeichen G. B und H. G steht für erheblich eingeschränkte Bewegungsfähigkeit; H für Hilflosigkeit und B für Begleitperson. Das bedeutet, die behinderte Person kann in öffentlichen Verkehrsmitteln, in der Bahn und sogar auf Fernreisen eine Begleitperson mitnehmen, die umsonst reist. Da das Mädchen selbst ja noch keine Tickets bezahlen muss, kommt das quasi einer goldenen BahnCard gleich. Solange ich das Mädchen dabei habe, kann ich fast überallhin umsonst reisen. Das ist ein schöner Gedanke, auch wenn ich, realistisch betrachtet, kaum zum Reisen komme.
Zu der Zeit, als wir den Ausweis bekamen, entwickelte sich das Mädchen so langsam weiter, dass man schon fast von einer Stagnation sprechen konnte – und Entwicklungsstagnationen sind kein gutes Zeichen. Aber kurz darauf kam es dann mit einem Entwicklungsschub um die Ecke, der sich gewaschen hatte. Innerhalb weniger Wochen richtete sich das Mädchen auf – kam aus der immer nur liegenden Position heraus erst in den Handstütz, dann in den Vierfüßer, von da aus in den Fersensitz und dann in den Kniestand. Aus dem Fersensitz heraus kann es sich mittlerweile selbst hinsetzen, indem es einfach die Unterschenkel nach vorne klappt. Im August saß sie, mit anderthalb Jahren, zum ersten mal in ihrem Leben auf dem Spielplatz im Sand.
Gleichzeitig hatte man den Eindruck, sie wird von Woche zu Woche noch wacher, aufmerksamer, interessierter, neugieriger. Während der letzten zwei Wochen hat das Mädchen gelernt, sich fortzubewegen und erkundet jetzt, mit den Händen nach vorne hüpfend und die Knie hinterherziehend, die gesamte Wohnung. In der Küche räumt es sehr enthusiastisch Schubladen aus, poltert Melaminbecher über den Boden, kruschtelt im Altpapier herum, kinstert mit irgendwelchen Packungen. Kurz: sie macht ihren Job :) Überhaupt: Sie liebt alles, was knistert und raschelt. Zur Zeit auch ganz besonders Herbstlaub, durch dass ich für sie immer ganz besonders laut raschelnd laufen muss, darüber freut sie sich ein Loch in die Mütze. Sie liebt es, bei ihren Brüdern im Zimmer sein zu können und mit ihnen zu spielen. Das geht leider nur, wenn jemand Erwachsenes darauf aufpassen kann, dass sie keine Legoteile verschluckt. Das Mädchen und seine Brüder sind sowieso nach wie vor ein irre herziges Team. Sehr große, sehr schöne Geschwisterliebe. Wir gehen 2 mal die Woche zur Physiotherapie, und einmal die Woche zur Logopädie. Zusätzlich alle paar Wochen zur Cranio- Sakral- und Atlastherapie. Auch in den Augen einiger Therapeut_innen des Mädchens habe ich in den letzten Wochen ein paar Freudentränchen gesehen.
Sie lautiert mittlerweile auch anders, hat endlich, endlich (!) angefangen, aus ihrem Spezialbecher zu trinken. Zwar nicht viel, aber immerhin trinkt sie endlich überhaupt. Sie isst auch gern Brot, Nudeln, Bananen und Weintrauben – wobei das aber eher ein zutscheln und lutschen ist, als richtiges Essen im Sinne von abbeißen, kauen, runterschlucken. Nach wie vor ernährt sie sich hauptsächlich von angereichertem Obstbrei; sie ist nach wie vor dünn, aber nicht mehr dystroph.
Die Hilfsmittel, die wir dann im Sommer bekamen, einen Reha- Kinderwagen und einen Reha- Hochstuhl, auf die wir monatelang gewartet hatten, brauchen wir nun fast nicht mehr. Als wir sie im Mai beantragten, konnte das Mädchen noch nicht mal frei sitzen. Zu Anfang ihres Entwicklungsschubs vor ein paar wenigen Monaten brauchte sie noch eine dicke Matte, weil sie regelmäßig umfiel; und ein Stillkissen, das sie beim Sitzen stützte. Beides haben wir in den letzten Tagen weggeräumt.Jetzt fängt sie gerade an, sich am Sofa hochzuziehen, und jetzt bin ich zuversichtlich, dass sie nächstes Jahr selbst durchs Laub rascheln können wird. Sie ist ein irre fröhliches, gut gelauntes Kind, was eigentlich permanent lächelt und grinst, lacht und kichert. Sie ist außerdem ein großer kleiner Quatschkopf und für jede Albernheit zu haben, womit sie sich wirklich exzellent in diese Familie einfügt.
All diese Dinge sind sehr positiv, und wir freuen uns sehr darüber. Nichts desto trotz ist die Entwicklungsverzögerung des Mädchens sehr ausgeprägt. Je nach Bereich ist sie auf einem Entwicklungsstand von irgendwo zwischen 10 und 14 Monaten. Noch immer ist es so, dass wir die Ursache für die Problematik des Mädchens nicht kennen. Alle diagnostischen Möglichkeiten sind für den Moment ausgereizt. Ihr Herz ist gesund, ihr Stoffwechseln auch. Eine vorerst letzte genetische Untersuchung läuft noch, aber auch da ist nicht mit einer Neuigkeit zu rechnen. Es wird aber weiterhin davon ausgegangen, dass das Mädchen auf jeden Fall irgendeinen – vermutlich noch unbekannten – genetischen Defekt hat. Ihre zwar nicht besonders auffälligen, aber dennoch vorhandenen Stigmata sprechen dafür: Das schmale, spitz zulaufende und überhaupt nicht typisch kleinkindliche Gesicht, die tiefliegenden Augen, die großen, tief sitzenden Ohren. Die Möglichkeiten, was in der genetischen Anlage bei der Entstehung eines Menschen schieflaufen kann, sind quasi unendlich. Jährlich werden etwa 30 neue Syndrome entdeckt und benannt, vielleicht ist unseres irgendwann dabei. Vielleicht aber auch nie. Damit, dass wir wohlmöglich nie sicher wissen werden, was unsere Tochter irgendwann mal können wird, und was nicht, müssen wir leben. Aber: Das müssen Eltern nicht- behinderter Kinder genau so. Ein gesundes Kind zu haben, bringt einen nicht unbedingt auf die sichere Seite, was das Aushaltenmüssen von Ängsten, Ungewissheit, Schicksalsschlägen, schwierigen Zeiten im Zusammenhang mit diesem Kind angeht.
Wir haben viel gelernt und verstanden in dieser Zeit mit unserer behinderten Tochter. Ein Kind mit Behinderung zu haben, hat uns für vieles sensibilisiert, was wir vorher nicht wahrgenommen oder verstanden haben. Das Gefühl, dass das Leben mit diesem Kind viel eher eine Bereicherung ist, als eine Bürde, hat sich mittlerweile etabliert. Wir sind eine Familie, und wir gehören genau so zusammen, wie wir sind. Es geht uns gut. Und ich hoffe, das bleibt lange so.